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Märchengeschichte:

 

Mütter und Töcher

und das Lied vom Zaubergarten

 

Es war vor langer Zeit, da war ein Mann, der schaute in jeder Nacht voller Ehrfurcht zum Himmel auf. Die Stellung der Gestirne, so sagte man, ist eine Botschaft der Götter an die Menschen. So kam es, dass der Mann in jeder Nacht das Abbild der Sterne auf ein Pergament zeichnete. Merkur kam schnell voran auf seinem Weg, schneller als Venus, Mars und Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun.

 

Auf seinem Schoß saß oft die kleine Tochter. Mit Griffeln welche er rot gefärbt hatte, mit Vulgaris, Rote Bete, malte sie belustigt in dem Werk seiner Wissenschaft. Und erst, wenn die Tochter schlief, übertrug der Vater seine Aufzeichnungen von der kleinen Schiefertafel auf das Pergament. Der Astrologe liebte sein Töchterlein über alle Maßen.

 

Verflogen waren Kummer und Gram in der Stunde, in der sie ihren ersten Schrei getan hat. Das geschah auf den Tag genau, ein Jahr nachdem die Frau des Astrologen einen Sohn entbunden hatte. Doch dieser Tag war ein schwarzer Tag, schwärzer als jede Nacht, erfüllt mit Bitterkeit, schlimmer als Wermut. Der ersehnte Sohn, er war tot, schon bevor er geboren wurde.  Und sein Name war Merkur. Merkurus, mein davoneilendes Sternenkind. Denn von zarter Gestalt war seine Mutter, so zart wie ein Kind war sie. Und war es geschehen, dass sie ihren Sohn nach 34 Wochen gebar.

 

Als das liebliche Töchterlein das Licht der Welt erblickte, da legte der Vater sie auf seine Hand, und kaum größer war sie, als die Hand des Vaters. Da hat die Mutter das zarte Kind in Watte gewickelt und mit einem Daunen-Kissen zugedeckt. Und bei jedem süßen Mucks, der unter den Daunen hervor kam und an das Ohr der Mutter drang, erschrak die Mutter und eilte zur Wiege. Oft stand die Mutter im  Sommer  in der Küche am Fenster und blickte mit Wehmut in den Garten, mit der kleinen Tochter auf dem Arm, und sie sprach: „Ach, warum nur warum, bist du, mein liebes Kind eine Tochter geworden? Nur dein Vater weiß, wie sehr mein Herz sich nach einem Sohn gesehnt hat“. So stand die zarte Frau am Fenster, und ihr Blick fiel böse auf die Weiber im Garten, mit ihren fülligen und wallenden Hüften, die da mit dem Kutscher lachten und scherzten. Der Astrologe aber, der das sah, setzte sich an seine Harfe und spielte seiner Frau ein Lied. So wurden die Augen der Frau leuchtend und hoch, und wenn sie bei den Weibern saß, dann war ihr Lachen hell und laut. Ihr Lachen kitzelte die Ohren ihres Gatten, und sein Herz wurde fröhlich, und er sang seiner Frau Liebeslieder, und ihren schmalen Hals bedeckte er mit Geschmeide.

 

Die kleine Tochter wuchs heran, und der Vater schenkte ihr Schiefertafeln und Bauklötze aus bunt bemaltem Holz, und die arme Großmutter schenkte ihr einen Stickrahmen. Da saß sie heimlich bei der Großmutter in der Stube, und sie stickte für die Mutter ein Bild. Die Großmutter spannte es in einen kleinen Rahmen. Mit dem Vater hat sie für die Mutter bunte Löffel bemalt, und stets war ihr kleines Herz voll Freude. Die Mutter schmückte das Haupt der Tochter mit silbernen Bändern.  Ihrem  Vater wich sie nicht von der Seite, wenn er das Haus reparierte, wenn der die Pferde einspannte und wenn er die Obstbäume schnitt. Als die Tochter älter wurde, zeigte sie dem Vater einen Gürtel, den sie bestickt hat, und sie sprach: „Vater, eine Perlenstickerin werde ich sein. Lass mich in die Stadt gehen. Dort werde ich das Handwerk erlernen.“ Da antwortete der Vater: „Tochter, du bist klug, wach und gelehrig ist dein Geist. Werde eine Baumeisterin. Paläste wirst du den Oberen bauen, nach ihrem Sinn, und ihre Pforten werden sie dir öffnen. Not wirst du nicht kennen.“ Da blickte die Tochter mild und sagte: „Mein lieber Vater, dies sind meine Pläne: Das Glück werde ich finden, wenn meine Hüften füllig und wallend sind. Kinder werde ich gebären und mein Haus wird von ihrem Lachen erfüllt sein. Ein Baumeister wird mein Mann sein, und wo immer er hin geht, dahin werde ich ihm folgen.“ Da sprach der Vater: „Es ist dein Wille. Dein Wille geschehe.“

 

So wurde die Tochter eine Perlenstickerin. Da kam ein Korbmacher daher. Er sang ihr Liebeslieder, er schenkte ihr Blumen, und er schenkte ihr Kuchen, und sie wurde die Braut eines Korbmachers. Als die Eltern das sahen, riefen sie die Verwandten und sie sagten: „Ein ehrlicher Handwerker ist er, gerade ist sein Gang und aufrecht sein Blick. Seht nur, unsere Tochter hat uns den Sohn geschenkt, nach dem unser Herz sich gesehnt hat. Unser Segen sei mit ihnen. In drei Monaten kommt alle in das Schloss des Fürsten. Dann wird große Hochzeit sein.“  

 

Bald war ein Jahr vergangen. Die junge Frau drehte sich vor dem Spiegel. Lächelnd band sie eine kleine Schürze vor ihr Bäuchlein. Da sprang mit einem Mal die Tür auf und der Vater und die Mutter traten ein. Als der Vater seine Tochter so vor dem Spiegel stehen sah, fiel sein Blick auf die kleine Wölbung ihres Leibes, und sein Blick wurde finster. Und von da an verging kein Tag, an dem die Tochter nicht seufzte unter den  Scheltworten des geliebten Vaters. „Halt ein,“ sprach die Mutter schließlich zu ihrem Mann, „auf dass sie nicht zum Entsetzen gebären möge, bevor es an der Zeit ist.“  

 

Als die Zeit gekommen war, in der die Tochter gebären möge, sprach die Mutter zur Tochter: „Wenn du in den Wehen liegst, so zürne nicht deinem Manne. Sei mild mit ihm.“ Als die folgende Nacht vergangen war, erblickte ein kleiner Knabe das Licht der Welt. Die Mutter rief die Verwandten ins Haus. Als sie alle gekommen waren, bürstete die Tochter ihr Haar, zog ein schönes Kleid an und stieg am Arm ihres jungen Gatten die Stufen empor, zu den Zimmern ihrer Eltern. Es dauerte nicht lange, da hörte sie die Verwandten kommen. Der Vater öffnete die Tür und die Verwandten strömten mit Jubelrufen ins Haus. Sie eilten an der Tochter vorüber und küssten die Großmutter. Da sprach die Tochter: „Seht mich an. Ich bin die Mutter.“ Die Verwandten aber lachten: „Die Großmutter, sie lebe hoch. Seht nur wie niedlich der kleine Knabe ist. Es ist Blut von ihrem Blut.“ Da drückte die Tochter ihr Kind an ihr Herz, schlich betrübt die Stufen hinab und ging in ihre Stube. Der junge Vater aber, der ihr gefolgt war, nahm den Knaben, stieg mit ihm die Stufen empor, um den Verwandten den Knaben zu zeigen. Und sie sprachen: „Der junge Vater, er lebe hoch. Böse aber ist sein junges Weib. Möge sie doch weg gehen, wenn es ihr beliebt. Den Knaben aber soll sie bei seinem Vater lassen, so dass wir ihn anschauen können.“

 

Der kleine Sohn gedieh zur Freude der ganzen Hausgemeinschaft. Die Großmutter wich nicht von seiner Wiege. Ihr Rat begleitete die Tochter von der Stunde in der sie morgens erwachte, bis sie sich am Abend zur Ruhe nieder legte. Wenn die Tochter mit dem Kind das Haus verließ, ermahnte sie die Mutter: „Pass mir gut auf mein Kind auf“. Die Tochter, die geschickt war in allen Dingen und die ihr Kind an ihrer Brust nährte, verschloss die Worte der Mutter in ihrem Herzen. Nur ihrem Mann gab sie den Schlüssel zu ihrem Herzen, so dass er sehen konnte, wie es vor Kummer blutete.  Als der junge Vater wie an jedem Tag zur Arbeit gegangen war, wollte die Tochter nicht auf den Rat ihrer Mutter hören. Da schlug die Mutter ihr auf die Wange. Die Tochter presste ihr Kind, das sie im Arm hielt, an ihr Herz. Als sie die Abendsuppe aßen, beklagte die Tochter sich vor ihrem Mann über die Strenge ihrer Mutter, und sie sprach: „Lass uns ein kleines Haus für uns alleine mieten.  Den Mietzins können wir uns leisten.“ Doch der junge Mann verschloss seine Ohren vor den Klagen seiner Frau und sprach mit entschlossener Stimme: „Wozu Zins für ein kleines Haus bezahlen, wo wir doch in dem großen Haus meiner Schwiegereltern leben.  Sieh dich an. Was bist du ohne deine Mutter, die dir ständig hilft?  Elend bist du, und unfähig einen Haushalt zu führen ohne die Hand deiner Mutter. Und gedenke doch des Kindes, das du unter deinem Herzen trägst. Nur ein Narr zahlt einen Zins für ein fremdes Haus und verlässt sein eigenes.“  Die junge Frau schwieg und bewahrte diese Worte in ihrem Herzen.

 

Sie gebar eine kleine Tochter. Und als die Tochter von ihrer Mutterbrust entwöhnt war, verdingte sich die junge Frau bei einem Schreiber. Ihre Gedanken waren bei ihren Kindern, ihr Blick aber war bei den Schreibern. So vergingen drei Jahre. Die Schreiber lachten mit der jungen Frau. Hinter ihrem Rücken aber spotteten sie ihr, wie einer Verstoßenen, die in der Schenke kühles Wasser trinkt, weil sie keinen Brunnen in ihrem Haus hat. Die junge Frau jedoch, gedachte an jedem Tag ihrer Worte, die sie als Kind das seinen Kinderschuhen gerade erst entwachsen war, zu ihrem Vater gesagt hatte:  „Mein lieber Vater, dies sind meine Pläne: Das Glück werde ich finden, wenn meine Hüften füllig und wallend sind. Kinder werde ich gebären und mein Haus wird von ihrem Lachen erfüllt sein. Ein Baumeister wird mein Mann sein, und wo immer er hin geht, dahin werde ich ihm folgen.“

 

 

An einem schönen Frühlingstag begegnete die junge Frau einem Bauernsohn. Der war schon in die Jahre gekommen, aber er hatte kein Weib. Er fragte: „Junges Weib, wohin gehst du?“ Und so nahm sie ihre Kinder und ging zu dem Bauernsohn. Sie sah auf ihre Kinder, und sie sah auf ihre Hüften, und wieder gedachte sie der Worte, die sie als Kind gesprochen hatte. So folgte sie dem Bauernsohn fortan, ohne Zagen.

Und seine Mutter und seine Schwestern wiesen ihr einen Platz in der Asche neben dem Herd zu, dort möge sie essen. Am Tisch war kein Platz für sie.  Als das Vieh versorgt und die Morgensuppe gegessen war, nahm die junge Frau stumm die Kinder an die Hand und schlich in ihre Kammer. Da nahm die Bauersfrau ihren Sohn beiseite und sprach mit Entschlossenheit:

„Einem Sohn der ohne ein Weib ist, wollten wir den Hof nicht geben. Denn alt sind wir an Jahren, und die Arbeit ist viel. So sprachen wir zu dir, ein Weib mögest du uns bringen. Du aber, alter Nichtsnutz, hast uns eine Herrin gebracht. Eine Perlenstickerin, eine Schreiberin, eine Tochter eines Astrologen taugt nicht, um als Magd einzuziehen, in das Haus einer Bäuerin. Der Tag kommen wird kommen, an dem sie deinen Vater und mich mit Schande aus dem Haus wirft.“

Da fluchte der Bauernsohn seiner Eltern, ihre Worte aber, behielt er in seinem Herzen. So wurde sein Blick hart gegen seine Frau und seine Worte wurden grob, und er fand keine Milde, als ihr Leib sich wölbte. Er nahm die Asche aus dem Ofen, und schüttete sie seinem Weib übers Haupt, als sie eine kleine Tochter an ihrer Brust nährte. Ihre Tränen schmeckten salzig, während ein kleines Bauerntöchterlein an der Mitterbrust saugte.

Und ihr Anblick ward einer elenden Magd gleich. In ihrem Herzen aber war sie die Tochter eines Astrologen, eine Perlenstickerin, eine Schreiberin, eine gute Mutter, und sie war die Frau stolze eines Bauern. Wegen der Asche schwieg sie fortan. Ihre Gedanken an die Zeit ihrer Jugend aber schrieb sie des Nachts in ein kleines Buch, und dieses versteckte sie in einem Sarg aus Zink. Diesen Sarg warf sie in den alten Ochsenkarren in der Scheune, mit dem der Vater ihrer Schwiegermutter die Früchte einst vom Feld holte. Dann bedeckte sie den Sarg mit alten Lumpen und Gerümpel. Der Wind kam kalt aus Norden und nahm die Lieder ihrer Kindheit mit sich. So verflog die Zeit. So verflogen die Erinnerungen.

 

Dann kam der Tag, da ergoss sich mit einem Sturmwind und Hagel das Unheil über ihrem Haus, das sich mit der Zeit zusammengebraut hatte. Da flohen die zwei großen Kinder aus dem Haus und zogen ein jedes in sein eigenes. Der eisige Sturmwind hatte tiefe Furchen im Angesicht der Frau hinterlassen. Und wegen des Hagels war das Dach ihres Hauses undicht geworden. Der Bauer und seine Frau lebten mit dem einzigen Kind, das ihnen noch geblieben war in dem kalten Haus, und sie froren bitterlich. Das Bauerntöchterlein aber, das sich in der guten Stube der Großmutter aufzuwärmen pflegte, wuchs zu einer wunderschönen und klugen Jungfrau heran.  

Ihr geliebtes Antlitz war das einzige Licht in einem dunklen, kalten Haus. Es war ein großes Haus mit Treppen aus Marmor und Böden aus hellem Holz, und Not kannte das Haus nicht.

Hier wuchs die Tochter heran, und sie war der ganze Stolz ihrer Mutter und ihres Vaters. Sie war der Stolz ihrer Großeltern und Tanten. Und sie war der Stolz ihres Spiegelbildes.

 

Es war in der Zeit, als sie gerade ihren Kinderschuhen entwachsen wollte. Da erblickte der alte Bauernsohn sein Grab und der Tod stellte sich neben ihn und sprach: „Es naht der Tag, da werde ich kommen, um dich zu holen.“ Hart und lang waren seine Tage gewesen, die Arbeit war schwer. Der Staub der Felder hatte seine Lungen verstopft, und der Neid der kleinen Bauern rings um den großen Hof war Fäulnis in seinem Gebein. Er hatte die Felder gepflügt. Er hatte auf dem Markt gehandelt und mit den Landvermessern gestritten. Er hat gesät und geerntet, gekauft und verkauft, und im Haus hat man ihn kaum gesehen. Dunkle Wolken zogen auf, als der Tag des Abschieds kam. Und am folgenden Tag kam ein Sturmwind aus Norden. Der brachte Kälte und Hagel.

 

Da streckte die alte Schwiegermutter ihre Arme nach der jungen Enkeltochter aus. Sie zeigte auf den weichen roten Teppich in der guten Stube, und sie öffnete die Tür zu dem hellen Kämmerlein hinter ihrer Küche. Die Tochter stand in der Tür und die Alte rückte den Schrank von der Wand, und dahinter war eine geheime Tür. Da nickte sie dem Töchterlein mit dem Kopf zu und öffnete die geheime Tür einen Spalt. Hinter dieser Tür lag ein schöner Garten mit bunten Blumen und duftenden Beeren. Mitten in dem Garten stand ein kleines Schloss. „Es sei dein“, sprach die Großmutter zu dem Mädchen: „Komm zu mir, und du wirst eine Prinzessin sein.“ Das Töchterlein aber gedachte der Mutter, und sprach: „Nein.“ Immer, wenn sie zur Großmutter ging, schaute sie aber in den Garten, und die Sehnsucht wuchs in ihrem Herzen. Und wenn die Mutter sie zur Arbeit rief, dachte die Tochter an den geheimen Garten. So saß sie oft bei der Mutter in der Küche und träumte, und ihr Ball, ihre bunten Bänder, ihr kupfernes Geschmeide und ihre farbige Kreide lagen achtlos auf dem Tisch. Es kam ein Tag, der brachte dunkle Regenwolken und die Mutter schimpfte wegen der Bänder, dem Ball, dem Geschmeide und der Kreide, die auf dem Tisch lagen.

 

Da schlich das Töchterlein des Nachts heimlich zur Großmutter, ging in das Kämmerlein, schlich hinter den Schrank, ging durch die geheime Tür in den Garten, und legte sich in dem Schloss in ihr Bettchen. Als die Tochter nicht von der Schule nach Hause kam, fing die Mutter zu suchen an. Doch sie konnte ihr geliebtes Kind nicht finden. Da kam ein alter Rabe an ihr Fenster und sprach: „Krück, krück, dein Kind, es kommt nie mehr zurück.“ Die Mutter, welche die Stimme erkannte, aber schrie: „Alter Schurke, was habe ich dir angetan? Was habe ich getan? Was habe ich dir angetan, dass du mein Kind mir stiehlst?“ Der Rabe aber nahm vom Tisch die Kreide, und biss hinein. Dann sprach er: „Fein, fein, fein, das Töchterlein, in mein Schloss zog sie ein. Fein, fein, fein, bei mir nur will sie sein.“ Dann flog der Rabe in den Garten. Die Prinzessin öffnete das obere Fenster im Glockenturm, und der Rabe flog herein. Und er schlief in einem goldenen Bett neben ihrer Kammer, und er aß von einem goldenen Teller neben ihr an der Tafel, und er aß von einem goldenen Löffel. Die alte Großmutter aber lachte in ihrer Küche und kochte Pflaumenmus.

 

 

Die Mutter kroch in die Scheune und holte den alten Ochsenkarren. Sie setzte sich in den Sarg und las im Buch ihrer Erinnerungen. Sie las sieben mal 77 Tage und sieben mal 77 Nächte lang. Dann ging an jedem Tag in die Stadt und stellte sich auf den Markt, wenn die Mittagssonne hoch am Himmel stand. An jedem Tag stand die Mutter an ihrem Platz. Und bald kannten die Leute ihren Namen. Und ihr Name war „die Schwefel-Hexe“. Vor ihr stand eine kleine Feuerschale. Wenn die verstoßenen Mütter an ihr vorüber gingen, blies sie ins Feuer, so dass die Frauen erschraken. Da sprach die Mutter: „Was süß ist im Frühling, ist bitter im Sommer des Lebens.  Wer das nicht weiß, der hofft vergebens. Das Lied vom verlorenen Zaubergarten singt mit mir, ihr lieben Leute. Morgen ist gestern heute.“

 

Die Frauen aber gingen an der schrulligen Alten vorüber. Nur selten blieb eine stehen. Der Platz der Mutter war bei den Bettlern und bei den Dieben. Staubig und zerrissen waren ihre Kleider von der Arbeit, seit dem Tag des Raben. Denn an jedem Morgen hielt sie sich bei den Sträflingen auf, die dem Kaiser Frondienst leisteten. Und der Kaiser gab ihr Brot. So kam es, dass man sie, ob ihrer staubigen, zerrissenen Kleider und des Feuers, „die Schwefel-Hexe“ nannte. Und kam das Schimpfwort an ihre Ohren, so lachte sie, und blies ins Feuer.

 

Was süß ist im Frühling,

ist bitter im Sommer des Lebens.

Wer das nicht weiß,

der hofft vergebens.

Das Lied vom verlorenen Zaubergarten singt mit mir,

ihr lieben Leute.

Morgen ist gestern heute.

 

Mit der Zeit wurden die verstoßenen Frauen, die bei ihr stehen blieben mehr. So kam es, dass die Frauen in der ganzen Stadt umher gingen, und das Lied vom Zaubergarten sangen. Die Kaufleute, die das hörten, waren des Gesangs der Schwefel-Hexe überdrüssig, und sie jagten die davon. Ihre Feuerschale stießen sie mit dem Fuß nieder, und die verstoßenen Frauen suchten nach der Hexe vergebens. Da gingen sie singend über den Markt, um nach ihr zu suchen. Die Hexe aber nahm eine größere Schale, füllte sie mit Kohlen und stellte sie auf dem Galgenberg auf, der über dem Marktplatz lag. So konnten die Leute den Rauch, welcher aus der Schale empor stieg, von weitem sehen. So kam es, dass viele Frauen auf den Berg eilten, die verstoßenen Frauen mit ihrem Lied vom Zaubergarten auf den Lippen, und die Frauen der Bauleute und der Astrologen, die Frauen der großen Kaufleute und die Bauersfrauen.

 

Da sprachen die feinen Frauen der Bauleute, der Astrologen und der großen Kaufleute: „Will die Hexe unsere Städte niederbrennen? Sie möge schweigen, auf dass es uns wohl ergehe.“ Die Bauersfrauen aber schimpften: „Seht die Hure! Eine Verstoßene ist sie, unter Verstoßenen. Einen eigenen Brunnen hat sie nicht, so will sie sich aus dem meinigen erquicken.“ Da jagten die feinen Frauen die Bauersfrauen davon, ob ihrer Schmähworte. Sie selbst aber lauschten heimlich dem Lied vom Zaubergarten. Und sie sahen an sich herunter, die eine betrachtete die andere. Und sie streichelten eine der anderen das Gesicht. Die verstoßenen Frauen aber wurden viele. Da gingen die feinen Frauen in das Haus des Reeders, und sie überredeten ihn, er möge ihnen ein Schiff geben, damit die Verstoßenen nach Malibertamagis übersetzen, in das geheime Mutterland der Freiheit und der Zauberer, welches in Vergessenheit lag, auf der anderen Seite des Ozeans, schon seit Menschengedenken. . .

 

So setzten die Frauen über, und schon bald erreichten sie Malibertamagis. Man sagt, sie lebten dort noch lange, in großen Sippen in Frieden beieinander. Noch heute singen ihre Enkel und Enkelinnen, ihre Urenkel und Urenkelinnen das alte Lied vom Zaubergarten. In der großen Stadt, am anderen Ufer des Ozeans singen die Frauen der Sterndeuter und der Bauleute das Lied vom Zaubergarten, und die Frauen der Korbflechter und der Seifensieder singen mit ihnen. Aber manchmal, wenn ein Haus im Sturmwind brach, oder wenn eine Verstoßene zu ihnen kommt, blasen sie ins Feuer. Und dann legt eine kleine Barke am Strand von Maliebertamagis an. So wird das Lied vom Zaubergarten durch die Städte und über die Ozeane getragen, und es verstummt nicht mehr.

 

Ma--li--ber-ta-ma--gis.

Mor--gen

ist – gest-tern

heu--te..

 

 

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