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Neumodische Märchen:

 

Das Funkeln

 

Es war einmal ein Land, da stand an jedem Morgen prächtiges ein pastellfarbenes Funkeln und Leuchten am Himmel. Regenwolken kannte das Land nicht. Nur der Morgentau benetzte die weiten duftenden Steppen, und sie brachten Früchte und Blumen hervor, so viel, dass die Menschen sich über und über daran sättigen konnten. Die Tage waren mild und warm. Die Menschen waren allezeit glücklich.

Mit Ehrfurcht im Herzen folgten ihre Blicke den Tieren, die in großen Herden an ihnen vorüberzogen. Mit Sehnsucht im Herzen folgten ihre Blicke den Vögeln am Himmel, den großen und den ganz kleinen. An den Sträuchern waberten kleine Schmetterling-Schwärme. Sie flogen hoch, wenn ein kleines Kind hinein lief, und manchmal setzte sich ein bunter Schmetterling auf die kleine ausgestreckte Hand eines Kindes. Dann studierten viele Kinderaugen-Paare mit Staunen jeden Fleck und jede kleine Äderung auf den bunten Flügeln dieser kleinen fliegenden Blumen-Drachen. „Wir werden dich Schmetterling nennen,“ sagten die Kinder. Und so gab es also Schmetterlinge in dem Land der Funkellichter.

 

Vor dem Horizont lag ein kleiner Berg. Auf dem stand ein mannshoher Steinkreis und behauene Säulen. Oft kehrten die Männer erst nach Tagen aus den Weiten der Steppe zurück, und manchmal hatten sie eins von den großen Tieren mitgenommen. Sie hatten es geschlachtet und sein Blut war im Boden versickert. So nahm Mutter Erde wieder auf, was sie hervorgebracht hatte. Mit dem Wild über einem Stab gesteckt, gingen die Männer den Frauen und Kindern entgegen. Dann trafen Männer, Frauen und Kinder sich in dem Steinkreis. Sie aßen und tranken. Sie sagen und sie tanzten fröhlich. Dann schliefen die Menschen, in Felle gewickelt, unter freiem Himmel ein, an einem Lagerfeuer, die Kleinen ganz nah an die Großen gekuschelt. Und manchmal kam es vor, dass ein Mann und eine Frau sich in dem Dunkel der Nacht verirrten. Doch wenn die Sonne am Horizont empor stieg, und wenn das prächtige pastellfarbene Funkeln und Leuchten am Himmel zu sehen war, kamen sie stets, vom Morgentau durchnässt, lachend und glückselig zu ihrer Gemeinschaft zurück. Und weil das schon immer so war, fürchtete sich kein kleines Kind, wenn die Mutter sich in einer solchen Nacht unter dem Steinkreis im Dunkel der Nacht verlaufen hatte.

 

Die Tiere folgten einem immer fortwährenden Rhythmus, und die Menschen folgten den Tieren. Manchmal konnten sie den Steinkreis während ihrer Wanderschaft nicht mehr am Horizont sehen. Doch es kam stets der Tag, an dem tauchte seine Silhouette wieder winzig klein und noch ganz weit weg, vor ihren Augen auf.
Die Tiere verirrten sich nie, auf ihrem Weg durch die Steppen des Landes. Es war ein sanfter Jahreskreis, in dem Menschen und Tiere sich nicht weit voneinander entfernt, bewegten.

Da war die „Weiße Feder“, Candepina, eine wunderschöne Frau mit wiegenden, üppigen Hüften und langen grau-weißen Locken, die wie Seide in der Sonne glänzten. Ihre Haut war glatt und zart wie heller Ton. Ihre weißen Zähne leuchteten wie Mondsteine in der Sonne, wenn sie lachte, und ihre dunklen Augen funkelten wie schwarze Diamanten. Sie war die schönste Frau unter der Sonne. Die Männer brachten ihr weiche Felle, wenn sie von der Jagd kamen. Sie schenkten ihr Ketten aus Perlen, von der Art wie sie sie trugen, während sie singend und tanzend um den Segen der Göttin für die Jagd baten. Glücklich war der Mann, der sie im Mondschein an sich empor hob und mit ihr im engen Reigen unter den Sternen tanzte. Und wenn der Morgen kam, brachte er sie zurück in ihr Zelt.

 

In ihrem Zelt lagen dicke gewebte Teppiche aus Wolle. Es war angefüllt mit kleinen Truhen, in denen sie ihre Perlen aufbewahrte.
Candepina stöhnte, wenn die Zeit kam, dass die Frauen ihre Zelte abbauten, um den Tieren im Jahreskeis zu folgen, so wie sie es schon immer getan hatten. Sie hat die Wanderschaft gehasst. Da sprach sie zu ihren Töchtern und Enkeltöchtern:


„Lasst uns einen Zaun bauen. Von den weiblichen Tieren wollen wir je fünf halten, von jeder Art, und eins von den männlichen.“ Sie wählte die Tiere aus, welche sie für würdig befand, für die Zucht. So blieben Candepina und ihre Töchter drei Jahre in der fruchtbaren Ebene, welche unter dem Steinkreis lag, während die anderen Frauen und Männer den Tieren weiter im Jahreskreis durch das Land folgten. Und als der Jahreskreis sich zum vierten Mal am Steinkreis schloss, und als die Menschen sich dort versammelt hatten, um alle gemeinsam zu essen, zu trinken und zu tanzen sahen die Männer, dass das geschlachtete Vieh nicht ausreichte. Da ging einer von ihnen, Benabi, über den Zaun von Candepina und nahm eines der weiblichen Tiere, das kein Junges säugte, und brachte es in den Steinkreis.

Candepina aber, die das sah, geriet in Wut. So mussten die Frauen nach dem Fest einen Käfig aus Bambusrohr bauen. „In diesem Käfig wirst du zehn Tage und Nachte lang schmachten,“ sprach Candepina, „auf dass deine Augen nie wieder begehren werden, was das meine ist.“


Da erhob der älteste Schamane seine Stimme und er sprach: „Soll es sein, dass die Herrin der Tierzucht und die Herrin der Viehherde auch die Herrin über Gut und Böse ist? Geh‘, und frage die große Göttin, bevor du dein Urteil vollendest.“ Candepina aber lachte und fragte: „Grauer Elch, siehst du nicht das Gedeihen in meinem Garten und den Segen, welchen die Göttin über meiner Herde ausgeschüttet hat? Willst du mir sagen, nun wird sie mir verbieten, mit meinem Besitz selbst zu verfahren, so wie es mir gefällt und keinem anderen?“ Da nahm der graue Elch die Hand der Frau und hob sie gen Himmel empor, und er küsste ihren Nacken. So neigte sich der Tag, und Benabi saß im Käfig. Als die Sonne am Morgen aufging, brachte der graue Elch Candepina zurück in ihr Zelt, und er verschloss das Zelt von außen, damit kein Unberufener nach den Perlen der Frau greifen möge.

 

Als zehn Tage und zehn Nächte verstrichen waren, befreite er Benabi aus dem Käfig, küsste seine Stirn und seine Wangen, und er schenkte ihm eine Perlenkette von der Art der Schamanen.
Auf Candepinas Haupt stellte der graue Elch einen Korb, und den füllte er mit Früchten, wildem Emmer und Perlen, und Candepina musste ihr schweres Joch tragen alle Tage lang, während der graue Elch den Tieren im Jahreskreis folgte. Und wenn es ihm danach verlangte, kam er in Candepinas Zelt, und sie gab ihm von den Früchten, und er aß. So vergingen drei Jahre.
Neben der Frau lief die kleine Tochter des grauen Elchs, die sie ihm geboren hatte, mit wackeligen Beinchen, und sie hielt sich am Rock der Mutter fest. Da stolperte Candepina über einen kleinen Stein und der schwer beladene Korb stürzte auf das Kind. Drei Tage lang trauerten die Schamanen, die Frauen und Töchter. Dann entblößten sie den Leichnam des geliebten Kindes und legten seinen kleinen Leib unter den Holundersträuchern ab, damit die Göttin das in sich aufnehmen möge, was sie vor einem Jahr hervorgebracht hatte. Und die Menschen saßen beisammen und weinten alle um das kleine Kind.

 

Da stand die älteste Frau auf, und sie sprach mit Entschlossenheit: „Es hat nicht sein sollen, dass die Herrin der Tierzucht und die Herrin der Viehherde auch die Herrin über Gut und Böse ist. Lasst uns zum Steinkreis gehen, um die die große Göttin zu befragen, bevor sie ihr Urteil über uns vollendet.“ Und so geschah es.


Da verteilte Candepina ihre Perlen auf dem Boden, und sie riss ihre Zäune nieder, und sie folgte mit den anderen Frauen den Tieren, die im Jahreskreis über das Land zogen. Der graue Elch aber zog mit den anderen Männern weiter, so wie sie es schon immer getan haben.

 

Und die große Göttin erfreute weiterhin die Herzen der Menschen an jedem Morgen mit dem pastellfarbenen Funkeln am Himmel, während der Morgentau das Land benetzte, und sie erfreute die Herzen der Menschen auch mit dem Lachen der kleinen Kinder, und sie schenkte den Männern, den Frauen und den Kindern ihren Segen. Das Land blühte, und es war bedeckt mit fruchttragenden Büschen und Bäumen, mit essbaren Wurzeln und Knollen, mit wildem Emmer, mit wildem Reis und mit Einkorn, mit vielen Tieren und bunten Schmetterlingen, mit singenden Vögeln und zirpenden Grillen. Die Tage waren warm und von keiner Wolke verdunkelt, und nachts leuchteten die Sterne am Himmel, wenn dann und wann ein Mann und eine Frau sich im Dunkel der Nacht verliefen. So kam es, dass die Münder der Menschen sich wieder öffneten, um zu lachen und zu singen. Und die Menschen waren fröhlich, solange ihre Zeit dauern mochte.

 

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Märchen für moderne Frauen

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