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Märchen für moderne Frauen

Affunculis - Die stummen Bauleute

Das ist das Märchen vom hohen Haus der Könige und von den stummen Bauleuten. Krieger hatten den Bauleuten des neuen Hauses ihres Anführers die Zungen heraus geschnitten. Den Architekt aber hoben sie auf ihren Schild und machten ihn zum König. Der ließ seinen Gehilfen in den oberen Stockwerken schöne Zimmer errichten. So kam es, dass die armen Bauleute bis heute nicht von dem Fundament reden können, welches das Haus trägt. Denn man hat ihnen die Zungen heraus geschnitten. Und seinen Gehilfen hat der König selbst goldene Ketten angelegt.

 

Da schrie eine Frau, die eine Tochter empfangen hat. Der König, der das hörte aber befahl: „Bringt mir die Tochter.“ Also eilten die Gehilfen zur Frau und sagten: „So rede nun, Frau: Wo ist deine Tochter?“  Die Frau aber sprach: „Hört mich an. Dies ist die Kunde von dem Orakel, welches ich auf dem Gipfel des großen Gebirges befragt habe, als ich noch jung an Jahren war: „Ein großer Feldherr wird ins Land ziehen. Ihm werden sie ein hohes Haus bauen. Das Haus wird bestehen. Und in sieben mal tausend Jahren werden die Leute noch von ihm reden. Sie werden sagen: Das Fundament des hohen Hauses aus eisenhaltigem Gestein ist auf einem jahrtausendealten Moor errichtet worden. Es ist das Moor, in dem die Architekten des Königs die Wahrheit und das Gesetz von Gut und Böse versenkt haben. Das geschah der Nacht bevor sie die Bauleute zum Moor brachten. Das Moor lag zwischen flachen Gebirgsketten und grünen Auen, die einst besiedelt waren von friedlichen Menschen in kleinen Hütten. Ihre Vorräte lagerten sie in einer Höhle in den Bergen, wo sie im Winter ihr Quartier bezogen. Freie Mütter hatten viele Früchte gesammelt und getrocknet. Sie hatten geboren und genährt. Sie tanzten mit den Schamanen, und sie verbrannten Räucherwerk in den Rauhnächten, und mit Großmüttern und Onkeln zogen sie die Nachkommen auf. So war es seit Urzeiten, seit der erste Mensch das Licht der Welt erblickte."

Die Stimme der Frau wurde schwächer, doch sie redete weiter: "Erst, so sprach das Orakel, wenn das hohe Haus in sieben mal tausend Jahren dicke Risse hat, die kein Mensch mehr zu schließen vermag, und wenn die Kunde vom Einsturz lauter von den Dächern tönt, als jedes Lied der Könige, werden weise Frauen das Fundament erforschen. Und sie werden die Wahrheit im Moor wiederfinden. “

 

Die Soldaten aber lachten und sagten zur Frau: „Sei nicht töricht, Frau, so dass dir kein Leid geschehe. Eine folgsame Tochter, wenn die Weisheit sie geküsst hat, wird sie ihr Haupt vor dem König neigen. Ihre Kinder wird sie an ihrer Brust nähren, und es werden viele sein, solange sie ihrem Herrn gefällt. Er wird es sein, dem sie ihre Früchte bringt. Keine böse Kunde wird über ihre Lippen kommen, nur die süße Melodie ihres Herrn.“ Die Gehilfen des Königs, die gekommen waren, um die Tochter zu holen, lobten die Rede der Soldaten. Die Mutter hörte alle ihre Worte, lächelte müde, und starb. Und die stummen Bauleute schwiegen.

 

Reden sollten die Zimmerleute, welche das Dach des neuen Hauses errichtet haben. Die Pläne, vom Fundament bis zum Dach, hatte der Architekt auf Häute und auf Papyrus geschrieben. Mit den Zimmerleuten zog die Kunde vom hohen Haus über das ganze Königreich: Doch ihre Augen haben nicht das Land gesehen, in dem das Fundament errichtet worden war. So sagten die Zimmerleute, das Haus sei auf Felsen errichtet. Sie sprachen: „Um diesen Felsen herum lag eine öde Wildnis und Höhlen, die von Affen bewohnt waren.“  So entstand die Mär von Affunculis, dem Land der Affen. Dieses Land, so scheint es noch heute, ist nicht das Land, in dem das neue Haus der Könige gebaut wurde.  

Bis heute schweigen die Bauleute. Die Zimmerleute ziehen durchs Land, mit der Mär vom hohen Haus und mit der Mär von der Wildnis Affunculis, dem Land der Affen. Und das hohe Haus bleibt bestehen.

Und wenn das Gebälk auch ächzt, die Könige singen das Lied vom hohen Land, das Lied von der grünen Aue. Die Architekten rasseln im Rhythmus, mit den goldenen Ketten, und brave Töchter singen das süße Lied des Herrn. Längst vertrocknet ist das Moor, in dem die Wahrheit verborgen liegt.

 

Und es kommen Tage, da steht die Sonne selbst im Winter warm über dem hohen Haus, und ihr Licht erhellt selbst die Meere, heller und wärmer als vor sieben mal tausend Jahren. Das Eis der Gletscher schmilzt, und Grönland wird wieder grün. Es ist die Zeit in der die Sturmwinde kommen. Regen benetzt die Länder. Wo die großen Ströme nicht anschwellen, und über die Ufer treten, da sehen die Menschen die Donnervögel lärmend am Himmel stehen. Dann droht große Not. Keine grünen Auen. Keine Lieder. Auch die Sonne vermag die Elenden nicht zu trösten.

Weit ab steht das neue Haus der Könige, und hier fällt der Regen lind. Dicht ist das Dach des hohen Hauses, und seine Rinnen leiten das Wasser sicher in den Boden. Die Menschen vor dem hohen Haus tanzen im warmen Regen, und sie singen frohe Lieder. Sie klatschen im Takt ihrer goldenen Ketten, im Spätsommer, wenn die wilden Beeren reifen.

Und das Birkhuhn kehrt zurück ins Moor, der große Brachvogel und die Kreuzotter. Da sind Frauen mit weisen Haaren. Sie halten Bündel mit Wollgras in den Händen, und sie rufen einander zu: „Hier habe ich etwas gefunden. Es ist die Wahrheit.“ 

Schamanen, Interesse halber: Europas Spirtuelle Krieger

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