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Der lange Weg

Vom Auszug aus dem Matriarchat - Dies ist das Märchen von der großen Dürre und von den Müttern, die sich auf den Weg machten, ins Land ihrer Urenkel.

 

Als die Wollnashörner und die anderen großen Tiere nach Norden gezogen waren, war es still geworden in den Weiten der Landschaft, die einst eine Steppe war. Längst hatte das Land sein beiges Steppen-Kleid unter der Wärme der Sonne in das bunte Kleid einer Tundra aus Büschen und Wäldern getauscht. Reich war das Land noch immer an wildem Getreide, an Beeren, Nüssen und Kräutern.  Nala saß unter einem kleinen Baum und beobachtete versonnen das Aufgehen der Sonne am Horizont. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Meldi, ihre kleine Tochter lachend auf sie zulief. Das Kind fiel in die Arme seiner Mutter. Drei Mal schon hat der Jahreskreis sich vollendet, und die kleine Tochter trank noch immer an jedem Morgen an der Brust ihrer Mutter. Langsam aber schien das Kind sich zu entwöhnen. Nala küsste das Haar der Tochter, die nun auf ihrem Schoß saß und auf einem Grashalm kauend mit ihrer Mutter dem kommenden Tag entgegen sah.

 

Bis in die späte Nacht hatten Hakuk, Jadal, Hedal und die anderen Männer gesungen, und mehr als sonst war ihr Flehen um eine erfolgreiche Jagd. Nun waren sie gemeinsam hinaus gezogen, und sie suchten nach den wenigen Tieren, die noch geblieben waren. Weit in der Ferne sah Nala die winzige Silhouette eines der letzten mächtigen Elche, der zwischen den Zwergbirken stand. Giftige Zwergbirken, das war einer der Flüche, mit welchem das neue Kleid der Landschaft die Tiere und die Menschen bedecken wollte.

So geschah es in der Zeit der großen Wasser, die zweitausend Jahre dauern sollte. Doch davon wussten Nala und ihre kleine Tochter nichts. Auch wussten sie nicht, dass eine große Flut kommen sollte, nachdem die Wasser versiegt waren.

 

Als die Erde sich unter schweren Dunstwolken schließlich beruhigt hatte, war es kühl geworden. Die feuchten Wiesen trockneten, und mit der Trockenheit kam eine große, zweihundert Jahre lange Dürre. Ein Seufzen ging über die Erde. Die Menschen waren in die Flusstäler gezogen, und schon lange war der Gesang der Männer nicht mehr zu hören, bevor sie gemeinsam auf die Jagd zogen. Die Zeit der Jäger und Nomaden war vorüber.

 

Während Frauen Gärten pflanzten, hielten die Männer ein jeder seine Schafe und Ziegen in Herden zusammen, ein jeder seine eigene Herde. So wie einst Hakuk und die anderen Männer die wilden Tiere genommen haben und ihrer Gemeinschaft das Fleisch brachten, so durchbohrten nun die Lanzen der Viehhirten das Wild, um ihren Besitz vor den wilden Tieren zu schützen. Das heilige Jagd-Ritual wich dem Morden. Die einstigen Nomaden der Steppen und der Tundra waren zu Herren über ihren Besitz geworden.

 

Die Freude des Dorfs über die Nahrung wich dem Stolz eines Hirten und dem Neid der Anderen. Der Kreislauf des Lebens hielt an, vor den Grenzen der Viehweiden. Und das Netz des Lebens, an das alles Leben geknüpft war, jedes an seinem Platz, erhielt ein neues Antlitz. Zerrissen war es von Dürre und reißenden Wassern, von Zäunen und Schlössern. Die Menschen rangen unter Seufzen dem oft kargen Boden ihre Nahrung ab.

Hände, die dazu geschaffen waren, zu geben und zu empfangen, ohne Unterschied, wurden zur Faust. Wehe dem, der nichts hatte, das er tauschen konnte. Wehe dem, dem es versagt war, dem Boden genug Nahrung für sich und seine kleine Gemeinschaft abzuringen. Wehe dem Garten, wenn der Regen ausblieb. Angst legte sich wie ein unsichtbares Joch über die Menschen. Es war die Angst vor dem Hunger, der auf Krankheit und Dürre folgte. So wurden die Menschen gierig. Ein Jeder trachtete danach, sich einen Vorrat anzulegen, ein Jeder, so wie er kann.

 

Da war ein Mann, der tauschte zehn weibliche Schafe gegen einen Bock. Einen Bock stellt er über zwanzig Schafe. Die Augen des Hirten hatten erkannt, dass der Bock den Samen des Lebens in sich trug. So kam es, dass seine Herde unter seinen Augen wuchs. Und die Brust des Mannes schwoll an vor Stolz. War er doch ein stolzer Besitzer vieler männlicher Tiere. Die taugten gut zum Tausch, und so mehrten sich seine Vorräte, so dass er bald mehr besaß, als er benötigte. Da tauschte er seine Vorräte gegen noch mehr Schafböcke und Ziegenböcke, und er wurde noch reicher.

 

Die Frauen hackten auf den Feldern, und sie plagten sich im Garten. Da war Noiri, eine Mutter einer kleinen Tochter. Sie trug das Kind noch in einem Tuch auf dem Rücken, während sie sich auf dem Feld bückte. Doch ihre Milch versiegte bald, ob der kargen Nahrung und der harten Arbeit. Da war keine Mutter mehr zu finden, die ihr Kind nährte, bis der Jahreskreis sich drei Mal vollendet hatte. So kam es, dass die Menschen viele Kinder hatten, seit der Zeit der großen Dürre.

 

Wie es den Tieren geschah, so geschah es auch den Menschen. Und so wollte der Kreislauf des Lebens sich nicht mehr schließen. Denn er war aus Dankbarkeit und aus Liebe gemacht. Aber die Liebe war der Angst, der Gier und dem Stolz auf den Besitz gewichen. Und wer mehr besaß, als er verbrauchen konnte, der Bestimmte das Maß zum Tausch, Fleisch gegen Emmer, Einkorn und Linsen.

 

Wo kein Netz des Lebens mehr gefunden wurde, da ward der Krummstab des Hirten zum Zeichen der Macht. Das war im Land der Dürre und der Wüsten.

 

Qualis rex, talis grex – Wie der König, so die Herde. Das war auch der Weg der Mütter. Die große Dürre hat sie ins Land ihrer Urenkel geführt. Das war der Weg, auf dem der Lebens-Odem der weisen Mütter erlosch, und ihre Töchter wurden geboren, unter dem Zeichen des Krummstabs. Und ihre Enkel kannten das Netz des Lebens nicht mehr.

Doch da war eine kleine Faser, die hatte die große Göttin unsichtbar in die Herzen der Frauen gewebt. Und wann auch immer ein Mutterherz zerbricht, wo sieht sie eine goldene Faser in ihrem Herzen, die leuchtet wie ein Hoffnungs-Funke. Und sie steht auf und geht auf die Suche nach dem Netz des Lebens.

 

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