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Märchen

Der Garten der Göttinnen

„Da war ein Garten, der erstreckte sich bis zum Horizont. Der Garten, das waren sieben Teile.“  Die junge Frau blickte mit fragenden Augen zu ihr herüber. Da nahm die alte Frau die Tochter ihrer Tochter bei der Hand und führte sie zu dem kleinen Teich, der in einer Waldlichtung lag. Sie zeigte auf die schwarz leuchtende Wasseroberfläche. Die junge Frau konnte die Großmutter und sich selbst wie in einem Spiegel darin sehen. Da kam ein leichter Wind und verwischte das Bild.

 

Die alte Mutter aber sprach:

Vom Garten der Göttinnen will ich dir erzählen. Lege deinen Blick auf das Wasser und folge meinen Worten. Siehe, da war ein Zaubergarten. Im größten Teil erstreckten sich endlose Wälder. Vor seinen riesenhaften wild-rauen Sandsteinflanken sang der Wind sein Lied. Am Fuße der Flanken sprachen die Menschen mit singender Stimme geheime Worte in von Termiten ausgehöhlte Eukalyptusstämme:  „Wäiii-jaaa, Iiih-diii“.  Das, mein Kind, war der Klang der Wildnis. Der Wind trug ihn in die endlose Weite der Dünenlandschaft, in der ein magischer fahler brauner Berg lag.  Bei Sonnenuntergang verfärbte sich der Berg unter dem Gesang der Göttin hellrot. Und ihr Name war Kunapipi. Man sagt, sie gebar so viele Kinder, dass die Menschen ihr Bild als das Bild von Zwillings-Schwestern malten. Und ihre Urenkel singen ihr noch heute das Lied der Wildnis, mit Eukalyptusstämmen.

 

Im zweiten Garten wohnte Anki, die große Göttin des Himmels und der Erde. Sie seufzte oft, ob des Schicksals, welches die Nomaden mitbrachten, die aus dem Land der Schneeberge in ihren Garten gekommen waren, der zwischen zwei großen Flüssen lag. Der geheimnisvolle Garten war gesäumt von zwei Gebirgen, und er war offen an seiner Küste zum grünen Meer.

Im Sonnengarten wohnte Neitha. In ihrem Auge stand stets eine kleine Wehmuts-Träne, wenn sie der Zeiten gedachte, in denen ihr Garten einst über und über mit frischem Grün bedeckt war. Nun offenbarte sich die Pracht endloser Sanddünen vor ihren Augen, und entlang des großen Flusses lagen fruchtbare Oasen, wie Perlen, eine schöner als die andere.

 

Von eben solcher Weite war auch der Garten der vier weisen Göttinnen ohne Namen. Es waren die Schlangenfrau, die Erdfrau, die Kornfrau und die Spinnenfrau. Die Spinnenfrau brachte das Licht auf die Erde. Die Weite des Gartens reichte von einem Ozean bis zum anderen. Es war ein wunderschönes Land mit allen Arten von Landschaften, die ein Mensch sich nur vorstellen kann. Große Herden mit wilden Pferden, und mit anderen riesigen starken Tieren zogen durch den Garten. Ein einziges Tier ernährte ein ganzes Dorf viele Wochen lang. Die Urenkel der Spinnenfrau nennen den Garten Sehnsucht, und Heimat.

 

Ein kleiner, aber prächtiger, duftender und blühender Garten war der von Gaia, der „Göttin Erdenmutter“. Sie wurde in der Finsternis geboren, aber auf ihrem Garten lag die Sonne.  Die Göttin wohnte in ihrem Garten mit ihrer Mutter und mit ihrer Tochter. Unter den Händen der drei Göttinnen wuchs und gedieh der Garten prächtig, und die Menschen lachten und tanzten mit ihnen unter der goldenen Sonne. Ihr wunderschöner Garten erstreckte sich über ungezählte kleine Inseln, die in einem blauen warmen Meer lagen, sowie über ein Stück Festland, welches das Land der Berge genannt wurde.

 

Der sechste Garten war der Garten des Glücks. Doch er sollte der Garten des Seufzens genannt werden, in einer neuen Zeit, in welcher sein Reichtum sein Segen und sein Fluch sein sollte: Gold, Diamanten, Kupfer und Öl. Im Garten des Glücks wohnte einst die Göttin Mebeli. Sie liebte die wilden Elefanten, die in den Wäldern umherstreiften. Sie liebte die Regenwälder und die Tiere, die Leoparden, die Antilopen, die Schimpansen und auch die riesigen Flusspferde, mit denen sie seit Anbeginn der Zeit friedlich gelebt hat.

 

Ein ganz besonderes Getreide brachte der letzte Garten hervor. Es war weiß, und die Frauen sammelten das wilde Getreide in den gewaltigen Schwemmlandbecken, die sich abwechselten mit Gebirgen und trockenen Wüsten. Es war der Garten der Göttin Nu-Wa. Sie liebte die Musik, und die Menschen. Die wurden Bauern. Der Garten der Göttin Nu-Wa ist auch der Garten der Legenden.

Nach einer alten Legende, welche von der Zeit erzählt, als der Kosmos noch ungeordnet war, und in der Himmel und Erde ihre Plätze noch nicht eingenommen hatten, in der die Himmelsrichtungen vertauscht waren, und als überall Feuer loderten, und als zugleich eine Flut das Land verschluckte, soll Nu-Wa  Steine geschmolzen haben, um den Himmel zu flicken. Und mehr noch. Die Menschen sagen: Nu-Wa ist die Schöpfergöttin der Menschen. Von diesem Garten kam die Kunde, Nu-Wa und ihr Bruder Fuxi  seien die einzigen Menschen in diesem Garten gewesen. Sie sagen, ihre Augen erblickten zwei Rauchwolken, welche gen Himmel stiegen, und die sich in der Luft vereinigten. Das, so sprachen die Beiden, ist ein Orakel. Lass und einander heiraten. Auf Bildern aus alter Zeit sind Nu-Wa und Fuxi  als Frau und Mann gemalt, und siehe: Mit dem Leib einer Schlange.

 

Längst schon liegt der Garten der Göttinnen in Schutt und Asche. Im wenigen Grün, das noch ist, ward jeder Grashalm gezählt. Kein Mensch vermag ihn mehr zu finden. Rauchwolken stehen am Himmel, über den Gipfeln der hohen Berge. Verloren ist die Wahrheit, das Gesetz von Gut und Böse. Es liegt im Dunkel der Vergessenheit. Und „Chomlung-Ma“ heißt „Mutter des Universums“, ein Mittler zwischen Himmel und Erde. Seine Gipfel liegen im Nebel.

Begraben im Wüstensand liegen die Bildnisse der großen weisen Frauen. Manchmal, wenn der Wind es will, taucht das steinerne Abbild einer Göttin aus dem Sand auf, im Licht des hellen Tages. Bilder einer goldenen Zeit. Sie erstrahlen in der Finsternis.  Es ist die Zeit des kalten Lichts, welches die Grenzen von Nacht und Tag verwischt. Bleiche Frauen mit dicken Lippen und schmalen Leibern schaudern beim Anblick der Göttin. Es ist die Zeit der Auferstehung der alten Legende. Da waren Rauchwolken, die gen Himmel steigen. Da lauschen Menschen dem Klang ihrer Stimmen, die einander sprachen: „Es ist ein heiliges Orakel. Lasst uns ihm folgen.“ Und sie folgen dem Schall und dem Rauch, bis das letzte Öl verbrannt, und bis das letzte Gold geschürft ist.

„Chomlung-Ma, reiß auf die Himmel, und lass es regnen. Wasche weg den Staub der Vergessenheit, und lass uns die Wahrheit finden.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Märchen von Brigitte Naporra

 

Wissenschaftliche Quelle: Das Müttertabu, Dr. Kirsten Armbruster

Weitere Quelle: Wikipedia

 

 

 

 

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